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Yet another …

Ich weiß noch, dass ich besessen davon war, den Einen Ring zu schmieden.

Andreas: Sag mal, hattest du nicht mal so ein selbstgestricktes CMS, an dem du jahrelang gefeilt hast? Auf Basis von PHP und XML?

Guido: Ha, XSLT, hieß es, sei die Zukunft, und da habe ich natürlich losgelegt. Ich war jung, frisch und zu allem bereit. Ich bin dann auf den Zug aufgesprungen und bin mitgefahren. Konnte ja keiner ahnen, dass kohlebetriebene Züge keine Zukunft haben, sozusagen. Aber immerhin kann ich da ein Häkchen hinter machen. Eigenes CMS: Check.

Andreas: Ich habe mich auch mal an einem eigenen CMS versucht, auch PHP. Das muss so um 2006 herum gewesen sein. Aber ich hatte da nicht so viel Ausdauer wie du. Weißt du noch, wann das Thema CMS so richtig in unserer Praxis ankam? Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Jahren – 2000, 2002 – für meine Kunden immer kleine Redaktionsoberflächen für ihre Websites gebaut habe.

Guido: Ja, so kurz nach 2000. Da habe ich dann mit TYPO3 herumgespielt und auch ziemlich lange, so bis 2008. Danach bin ich einer von den coolen RubyOnRails-Jungs geworden. Da kannste alles mit machen, hieß es. Und das haben wir dann auch. Von Shoplösungen mit allem Pipapo bis zu ganz individuellen Geschichten.

Andreas: Shops sind ja schon ein bisschen schwieriger. Ich hatte da immer einen Heidenrespekt vor dem Bezahl- und Abrechnungsprozess. Aber dich hat das nicht abgeschreckt. Du hattest diesen T-Shirt-Shop …

Guido: Ja, der war noch aus meiner Diplomarbeit heraus entstanden. Da konntest du alles mit machen, aber sowas würde heute keiner mehr von null an bauen.

Andreas: Immerhin hast du einmal ganz konkret erfahren und erarbeitet, was so alles an Logik und Aufwand in einem Shop steckt. Wir nehmen solche Sachen, zumal als Open-Source-Lösungen, ja heute immer so selbstverständlich hin und sind dann sogar noch ziemlich anspruchsvoll.

Guido: Ja, stimmt. Heute greift man schnell zu einer fertigen Lösung. Die Ansprüche sind aber über die Zeit auch immens gewachsen. Wenn du ein Projekt bei Adam und Eva starten würdest, dann käme das vom Stundenaufwand her so teuer, dass dir das kein Kunde mehr bezahlen würde. Und die ganze Arbeit, die im Backend hängt, sieht auch niemand. Und da ist dann auch nicht so der Wille, was Neues zu machen und zu bezahlen.

Andreas: Ich bin ja schon damals mit dem Herzen eher im Frontend gewesen. Ich weiß noch, dass ich – wie damals so viele Entwickler – besessen davon war, den Einen Ring zu schmieden: die Universallösung für redundante Problemstellungen, vor allem Event Handling. Na, und mindestens eine eigene Lightbox- und eine eigene Baummenü-Lösung hat man auch mal selbst gebaut, wenn man als Frontender etwas auf sich hielt. – Ich frage mich, ob das damals schon bescheuert war …

Illustration: Yet another … (Buchstabe Y im »ABC für Webmenschen«»)

Guido: Wir hatten ja nix. (Lacht.) Aber im Ernst: natürlich schaut heute die eine oder andere Lösung von damals zum Teil mickrig aus, aber es war eine andere Zeit. Du konntest nicht einfach bei Google oder Stackoverflow zig Lösungen finden. Man musste noch selber ran und dadurch hat man eine ganze Menge gelernt, wie ich finde.

Andreas: Da haste Recht. Zurück will man dahin natürlich trotzdem nicht. Ich weiß noch ganz genau, dass ich jQuery im Januar 2007 entdeckt habe. Bei einem großen Projekt in Frankfurt, wo ich auch zum ersten Mal von Rails hörte und zum ersten Mal Entwickler mit Macs traf. (Lacht.) Und vorher, ja, meine JS-Pocket-Lib war gar nicht so blöde, und sie lief ja auf der Website eines seeehr großen Kunden noch jahrelang, weißt du noch? Aber mit jQuery und Frameworks und Datenbank-Abstraktionen isses schon besser.

Guido: Klar, ohne JS-Frameworks und ohne sowas wie Rails hätte ich auch keine Lust mehr. Wer größere Dinge bauen möchte, der kommt da ja nicht mehr drum herum. Es sei denn, man macht gern »Grundlagenforschung«.

Andreas: Würdest du denn sagen, dass es gar nicht mal so übel war, damals dabeigewesen zu sein? Man könnte ja auch sagen, dass wir damals unsere Zeit mit Kinderkram vergeudet haben, während die jungen Entwickler heute gleich von Anfang an viel professioneller arbeiten.

Guido: Ehrlich gesagt wäre ich heute als Neuling eher abgeschreckt von der Komplexität der Dinge. Früher musstest du in PHP3 noch deine eigene Session-Verwaltung bauen, aber ich fand das auch irgendwie gut, da du verstanden hast, wie die Dinge auf unterster Ebene funktionieren. Da konntest du auch mal ganz eigene Wege ausprobieren. Heute schauen dich die Leute schon komisch an, wenn du mal eine eigene Authentifizierung entwickelst und nicht eine schon fertige Lösung nimmst.

Andreas: Da ist was dran. Aber die Welt hat sich eben weitergedreht. Es gibt heute einfach nichts mehr zu experimentieren. Die Weltkarte der Web-Entwickler hat sozusagen keine weißen Stellen mehr – oder siehst du das anders? Wäre doch bescheuert, sich heute auf Krampf hinzuhocken und meinetwegen jQuery nachzubauen oder eine Datenbank-Abstraktion mit Ruby!

Guido: Ja, aber man muss auch für sich selbst schauen, dass man Ende nicht nur noch Komponenten zusammenklickt. Wenn du nämlich nicht mehr in der Lage bist, dich wirklich kreativ einzubringen, dann wirst du über kurz oder lang durch eine KI und Machine Learning ersetzt werden. Gerade in der Webentwicklung könnte da was gehen.

Andreas: Ach komm, das sind doch Spinnereien!

(beide lachen und gehen einen Kaffee trinken …)

von Andreas Dölling und Guido Boyke