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XX

Vielleicht können wir uns in Bezug auf geschlechtsneutrale Sprache vorerst darauf verständigen, dass das generische Maskulinum echt Mist ist, aber leider der beste Mist, den wir haben.

Alle, die unter der Überschrift »XX« etwas Anzügliches und Derbes erwartet haben, muss ich enttäuschen, aber es ist ja keine unüberwindliche Hürde, im Netz anderswo fündig zu werden.

Ums »Untenrum« geht es aber in gewisser Weise trotzdem. Soweit ich das verstanden habe als einer, der in der Schule Biologie so früh wie möglich abgewählt hat, hängt es bei uns Menschen an einer bestimmten Art von Chromosomen, ob wir männlichen oder weiblichen Geschlechts sind oder von beidem etwas haben.

Der weibliche Mensch hat für gewöhnlich zwei X-Chromosomen. Bei mir und meinen Geschlechtsgenossen dagegen findet sich statt des zweiten X-Chromosoms, das eigentlich so eine Art Sicherheitskopie des ersten ist, nur ein Datensatz mit deutlich geringerer Information, das berühmte Y-Chromosom.

Mit einer demütigen Bitte um Vergebung und Nachsicht, die ich an alle in Biologie Beschlagenen richte, möchte ich dann auch schleunigst den Ausstieg aus dem wackeligen Einstieg schaffen und zum Thema kommen!

Illustration: XX (Buchstabe X im »ABC für Webmenschen«»)

Ich bin mir nicht sicher – ich vermute aber, dass den meisten Lesern unseres ABC nichts Unangenehmes aufgefallen sein wird, jedenfalls nicht jenseits des Inhaltlichen. Denjenigen Lesern nämlich, die Träger des soeben erwähnten Y-Chromosoms sind.

Nicht-männliche Leser jedoch mögen sich daran gestoßen haben, dass das ABC sie sprachlich scheinbar übergeht. Indem nämlich, wie gerade eben, immer nur von Lesern, Entwicklern, Designern, Kunden und dergleichen die Rede ist.

Ich mische mich hier nicht in den Wirbel um das Urteil des BGH letztens (mein Artikel enstand – ich schwöre es! – zwei Tage vorher, ohne dass ich von der Klage etwas wusste). Und ich will hier auf keinen Fall in die Gender-Debatte einsteigen. Das ist mir als friedliebendem Menschen ein viel zu umkämpftes und ideologisch von allen Seiten viel zu überfrachtetes Thema. Ich möchte nur erklären, warum das ABC sprachlich so ist, wie es ist.

Müssen wir dazu erörtern, dass Frauen natürlich zur Web-Branche gehören? Als Designer, Entwickler, Berater, Chefs, Kunden, Benutzer, Texter? Müssen wir nicht, denke ich. Ich jedenfalls bin geistig durchaus im 20. und 21. Jahrhundert zu Hause, empfinde weder mein Geschlecht noch meine Nationalität als etwas, das mich über oder unter andere stellt, und habe ganz selbstverständlich mit Frauen und für Frauen gearbeitet, ja, mit manchen von ihnen verbindet mich gar – gasp! – eine Freundschaft.

Um es einmal ausdrücklich klarzustellen: Wenn ich von Kunden und Geschäftsführern und Entwicklern schreibe, dann ist mir in diesem Zusammenhang das Geschlecht vollkommen Wurst. Es spielt überhaupt keine Rolle. Und jeder, der in Kontexten denken kann und nicht das Böse sehen will, wird das erkennen können.

Ich bin keiner, der Streit liebt, wie vorhin schon erwähnt. Und gleichzeitig liebe ich Sprache, vor allem meine deutsche Muttersprache. (Das Englische liebe ich auch, habe dazu aber natürlich nicht die gleichermaßen innige Verbundenheit.) Vor diesem Hintergrund kann mich der in letzter Zeit aus meiner Sicht immer hitziger gewordene Streit um sprachliche Korrektheit nicht kaltlassen.

Ich habe mich immer gefragt, ob man mit all den Versuchen, eine niemanden ausgrenzende Sprache zu schaffen, nicht Lösungen sucht für ein Problem, das es gar nicht gibt. So wie BEM und SCSS Probleme lösen, die aus meiner Sicht nicht existieren.

Ich frage mich von Anfang dieser Diskussionen an, wie man überhaupt in Wendungen wie »die Bürger dieses Landes« oder »wie jeder weiß« oder »die Anliegen von Fußgängern in Innenstädten« einen geschlechtlichen Bezug sehen kann? Ich denke bei dem Wort »Fußgänger« nicht an Penisse, Brustbehaarung und Stehpinkler. Ich denke an Menschen, die sich zu Fuß durch die Stadt bewegen.

Gibt es wirklich Menschen, die permanent, in jedem Zusammenhang an Geschlechtliches denken?

Meine ganz intuitive Wahrnehmung war und ist, dass es sich in den Fällen, in denen solche maskulinen Formen eingesetzt werden, ohne dass es im Kontext um das Geschlecht geht, um eine Art »neutrales Maskulinum« handelt.

Als ich nach diesem Begriff googelte, stieß ich tatsächlich auf den Begriff des Generischen Maskulinums. Sieh an. Für mich ergibt das Sinn, und ich halte das auch nicht für eine faule Ausrede ewiggestriger Möchtegern-Patriarchen. (Glaubt mir: ich bin als Patriarch denkbar schlecht geeignet.)

Ich kann es aber gut verstehen, wenn Frauen (oder Menschen, die nicht Mann oder Frau sind) kritisieren, dass diese neutrale, diese generische Sprachform fast immer identisch mit der maskulinen Form eines Begriffs ist. – Ja, das ist in der Tat unglücklich. Vielleicht sogar Mist. Aber das ist das, was sich über Jahrhunderte entwickelt hat und was wir im Moment haben.

Es ist keine Verbesserung, nun zu fordern, dass wir, um korrekt zu sprechen, immer und überall die maskuline und die feminine Form anführen.

Das Offensichtliche ist, dass wir damit die Möglichkeit verlieren, gut lesbare Texte auch zu komplexen Themen zu schreiben, anspruchsvolle Texte mit sprachlicher Eleganz zu schreiben, poetisch zu schreiben. Nein, wir würden unsere schöne Muttersprache verhunzen und degradieren zu einer reinen Verwaltungssprache, umständlich und hohl. Und nein: das ist kein unwichtiges Argument. Auch in Zeiten von Tweets und Youtube-Clips ist Sprache für uns unersetzlich. Es ist nicht trivial, mal eben ein bisschen an ihr herumzuschrauben.

Es spricht auch anderes gegen solche Doppelnennungen wie etwa »Entwickler und Entwicklerinnen«: diese Form lässt nämlich – im Gegensatz zum generischen Maskulinum – alle Menschen außen vor, die nicht männlich oder weiblich sind. Ich weiß, dass man diesem Dilemma wiederum mit Gender-Unterstrichen und Gender-Sternen zu Leibe rücken will, aber ich denke, wir sind uns alle einig, dass das keine Lösung ist, sondern ein rein schriftsprachlicher Taschenspielertrick, der nicht funktioniert. Sprache muss immer vorlesbar, aussprechbar sein, sonst ist es keine Sprache fürs Leben, sondern fürs Papier.

Was außerdem gegen die Doppelnennung spricht, ist, dass sie eben genau das tut, was das generische Maskulinum unterlässt: die Doppelnennung bringt durch ihre Spezifität überhaupt erst Geschlechtliches hinein, wo Geschlechtliches gar nicht von Belang ist!

Nehmen wir die Aussage »Fußgänger fühlen sich in deutschen Innenstädten oft wie reine Störfaktoren«. Machen wir daraus: »Fußgänger und Fußgängerinnen fühlen sich in deutschen Innenstädten oft wie reine Störfaktoren«. Merkt ihr es? Aus einer klaren und abstrakt, also allgemein, zu verstehenden Aussage wird eine ganz unnötig und unpassend spezifische Aussage. Der Gehalt der Aussage verschiebt sich.

Nehmen wir ein drastischeres Beispiel: »Nationalsozialisten hatten die Vernichtung der Juden zum Ziel«. Machen wir daraus: »Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten hatten die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zum Ziel«. Hier wird es noch deutlicher. Im ersten Fall ist völlig klar, dass es sich um eine allgemeine Feststellung handelt, in deren Kontext das Geschlecht überhaupt nicht die geringste Rolle spielt. Die scheinkorrekte Variante ist nicht nur sprachlich schlecht, sondern wiederum unangemessen spezifisch und vom Kern der Aussage ablenkend.

Ich weiß, dass ich mit Verfechtern einer neuen Sprache noch viel weiter diskutieren müsste, aber wir wollen hier kurze Artikel schreiben, und der hier ist schon viel zu lang geworden. Ich bin jedenfalls auch nicht der Überzeugung, dass die schrecklichen, blutleeren Notbegriffe wie »Lehrende« statt »Lehrer« eine Lösung sind. Das ist wieder Verwaltungs- und Juristensprache und zudem auch semantisch fragwürdig.

Wenn wir eine Lösung wollen, dann müssen wir aus meiner Sicht von der Notwendigkeit einer generischen, also geschlechtsneutralen Form ausgehen und sie nicht einfach über Bord werfen, nur weil sie im Deutschen identisch mit der maskulinen Form ist.

Vermutlich kämen wir nicht darum herum, entweder eine neue generische Form einzuführen, etwa: das Arztum, der Arzt, die Ärztin – die Arztums, die Ärzte, die Ärztinnen.

Doof.

Oder ein neues Maskulinum, etwa: das Arzt, der Ärzter, die Ärztin – die Ärzte, die Ärzter, die Ärztinnen. Oder: das Bürger, der Bürgermann, die Bürgerfrau.

Das klingt fremd, das klingt lächerlich. Im ersten Fall würde man auch in etymologische Erklärungsnot kommen. Und doch ist es näher an einer echten Problemlösung und an lebendiger Sprache als Doppelnennung und rein schriftliche Konstrukte oder das Vermeiden ganzer Wendungen.

Die Frage ist, ob wir das wirklich wollen und ob so eine tiefgreifende Änderung überhaupt verwirklichbar wäre. Ich für mein Teil finde da das generische Maskulinum gar nicht so schlecht. Über die Demokratie sagte Churchill einmal: Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time. – Vielleicht können wir uns in Bezug auf geschlechtsneutrale Sprache vorerst darauf verständigen, dass das generische Maskulinum echt Mist ist, aber leider der beste Mist, den wir haben.

Und letztlich gilt auch hier wieder, dass wir über die Form nicht Gehalt, Gesinnung und Handeln vergessen sollten. Jedes Arschloch kann Formalien einhalten und imitieren und bleibt doch, ganz geschlechtsneutral – ein Arschloch …

von Andreas Dölling